Buchtipp · Eva Mühlbacher · Zeitreisende · Deutsche Literatur für Entdecker

Warum müssen wir uns anstrengen, die Buchstaben zusammenzusetzen, sodass sie in unserer Fantasie ihre Flügel ausbreiten und zu Bildern, Farben, Ereignissen verschmelzen können? Und, wenn wir schon dabei sind, warum lesen wir noch die alten Klassiker?

Die Klassiker wie Johann Wolfgang von Goethes Faust oder Gotthold Ephraim Lessings Emilia Galotti kennen wir aus der Schule. In meiner Schulzeit war Goethe ein klappriges, altes Fossil, das mit arthritischen Fingern die Lehnen des Schaukelstuhls umklammert hielt. Als ich das erste Mal als Kind in seinem Haus in Weimar stand, schienen der Staub und der Tod diesem Sterbezimmer und der Bibliothek noch immer anzuhaften. Schnell lief ich in den Garten, um tief durchzuatmen. Von Goethes Faust wusste ich nichts außer, dass mein Papa, der einmal Schauspieler werden wollte, einen träumerischen Blick bekam, wenn er den Titel dieses Dramas aussprach. Faust. Wie langweilig. Die Römischen Elegien – ein Titel, von dem ich nur die Hälfte überhaupt verstand. Wie nichtssagend für mein eigenes Leben.

Aber dann passierte es. Ich möchte fast sagen: mein Leben passierte mir. Ich schloss in dunklen Nächten, in denen ich mich selbst verlor, einen Pakt mit dem Teufel. Fast riskierte ich es, jemanden ins Unglück zu stürzen wie Faust es mit Gretchen tat. Dann las ich Faust noch einmal. Ich begann zu begreifen, was es bedeutete, besessen davon zu sein, alles wissen zu wollen. Ich begann zu realisieren, wie es klang, wenn jemand danach suchte, was die Welt im Inneren zusammenhielt. Ich begann mir zu wünschen, zum Augenblick zu sagen: Verweile doch, du bist so schön. Rom hielt mich umfangen wie eine Geliebte – so, wie diese Stadt es für Goethe getan hatte. Auf meiner Zunge zerfloss das Wort Elegie mit ihrem verheißungsvollen und sehnsüchtigen Geschmack, der Vergangenheit und Zukunft, Reue und Vision gleichermaßen in sich barg. Ich las von Fingerkuppen, die über Haut strichen, wenn die Nacht hereinbrach und auch ich ließ meine Fingerkuppen wandern – überallhin, wo sie es köstlich fanden, eine Weile zu bleiben. Goethes Rom wurde mein Rom. Und als ich das nächste Mal als erwachsene Frau in den Räumen seines Hauses in Weimar stand, war alles da: seine Notizbücher, verwaschen und von der Sonne verblichen wie die meinen; seine Ordnung in den staubigen Regalen; sein Sterbezimmer, in dem ein alter Mann nach einem langen, gefüllten und erfüllten Leben das letzte Mal die Sonne sah.

Ich lernte, dass meine Generation öfter sagen sollte Verweile doch, du bist so schön. Nicht, weil das logisch ist. Nicht, weil wir nicht manches falsch entscheiden können. Sondern weil das Erleben und das aktive Wahrnehmen seiner Gefühle und der Gefühle aller in der Umgebung die Essenz des Lebens ist. Die Schriftsteller und Schriftstellerinnen vergangener Zeiten haben diese Essenz in unzähligen Facetten in Worte gegossen. Selten habe ich mich der Formulierung der Liebe näher gefühlt als in der Novelle Werde die du bist der Frauenrechtlerin Hedwig Dohm. Wenige Passagen der Literatur haben mich emotional und spirituell so ergriffen wie das Gebet des Ackermanns aus dem 15. Jahrhundert. Die Sturmnacht, die die Protagonisten in Hugo von Hofmannsthals gleichnamigem Gedicht miteinander in einer kleinen Hütte am Meer verbringen, in der ihnen Wind und Salz um die Ohren blasen, ist für mich der Inbegriff von intimer Leidenschaft. Es gibt Tausende Beispiele.

Als die Serie Game of Thrones zu Ende ging, wettete ich mit meinen Geschwistern, dass Jamie und Cersei gemeinsam sterben würden. Ich war mir so sicher, weil es sich hier um das Zwillingsmotiv handelt, das in der Literatur um 1900 seine stärkste Ausprägung fand – und behielt recht. An diesem Punkt verstand ich: die Motive der Literaturgeschichte sind die Motive der Menschheit. Wir finden sie heute auch in aktuellen Netflix-Serien. Und wer Lessings Emilia Galotti aufmerksam liest, sieht die aktuelle #MeToo – Debatte so eindeutig gespiegelt, dass ihm ein Schauer über den Rücken läuft.

Mein Studium der Deutschen Philologie half mir, alles in den richtigen Kontext setzen und die Motive aus den altmodisch klingenden Worten herausschälen zu können. Im Laufe der Jahre habe ich mit vielen Freunden diskutiert, habe ihnen oft erklärt, weshalb welche Dinge so dargestellt sind und weshalb manche Figuren sich auf eine gewisse Weise verhalten. Irgendwann sagten sie zu mir, ich solle das, was ich sagte, doch einfach aufschreiben. Aus dieser Idee ist die Buchreihe Zeitreisende – Deutsche Literatur für Entdecker entstanden. Band 1 erschien im Oktober 2020; Band 2 im Juli 2022; Band 3 folgt als letzter Teil nächstes Jahr. Wen die Chronologie verwirrt: Band 1 deckt den Zeitraum von der Romantik bis zum Ersten Weltkrieg ab; Band 2 dann die Frühe Neuzeit bis zum Ende der Goethezeit und Band 3 das Mittelalter. Diese Reihung hat rein praktische Gründe. Ich bin davon ausgegangen, dass die Leserinnen und Leser sich in einer Zeit, die ihnen näherliegt, zunächst besser zurechtfinden können.

Wer der Meinung ist, dass klassische Literatur uns nichts mehr sagen kann, den lade ich auf eine Zeitreise ein: zu Rainer Maria Rilke in sein Schreibzimmer in Paris, zu Stefan Zweig ins ferne Petrópolis, zu Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen auf die Schlachtfelder des Dreißigjährigen Krieges. Was dort an Gefühlen sichtbar wird, sind immer und immer wieder: unsere eigenen.

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